Franziska Bartsch (geborene Schloßer) (*27.09.1931)
Die zweiundneunzigjährige Seniorin wohnt heute noch in dem Haus, in dem sie an einem Sonntagmorgen, am 27. September 1931 das Licht der Welt erblickte. Ihre zehn Jahre ältere Schwester kümmerte sich rührend um die kleine kränkliche Franziska. Trotz des großen Altersunterschieds standen sich die Schwestern sehr nahe. Franziskas Vater war Uhrmachermeister. Er lernte bei Carl Trümmer, der eine kleine Werkstatt in Pöttmes betrieb. Die beiden Herren verrichteten unter anderem Arbeiten für ein Antiquitätengeschäft in München. Prachtvolle Möbelstücke schmücken seit hundert Jahren das Wohnzimmer von Franziska Bartsch. Sie sind Zeugen der harten 20er Jahre, als die hohe Inflation den Vater bewegte, anstelle wertlosen Geldes gelegentlich Antiquitäten als Zahlung für geleistete Arbeit anzunehmen.
Im Jahre 1923 übernahm der Vater das Pöttmeser Uhrengeschäft im Kirchenweg (dem heutigen Partnerschaftsplatz). Franziskas Mutter führte den Haushalt und bewirtschaftete drei große Obst- und Gemüsegärten, denn in den Läden gab es kein frisches Gemüse zu kaufen. Franziska ging in Pöttmes zur Schule. „Die Klosterschwestern in der ‚Ratzenschule‘ waren sehr streng“, erinnert sie sich, „aber die Schulzeit war trotzdem schön“. Freundschaften, die damals entstanden, begleiten Franziska durch ihr ganzes Leben. Mit Josef Schupfner trifft sie sich noch heute, nach 85 Jahren.
In den letzten zwei Schuljahren fand kaum noch Unterricht statt. Die Kinder sammelten für die Wehrmacht Himbeer- und Brombeerblätter zum Tee kochen und Bucheckern für Öl. Franziska erinnert sich ganz genau an die Zeit kurz vor Kriegsende. Drei Tage vor der Kapitulation stand sie auf der Haustreppe und sah wie sich ein Jagdbomber im Tiefflug Pöttmes näherte. Dann begann der Beschuss. Die Familie flüchtete zur Tante in die Hof-Wirtschaft, wo sie 3 Tage und 3 Nächte lang im Keller ausharrten.
Franziska Bartsch erzählt von zwei Soldaten, die sich bei ihrem Onkel in der Schwedenstraße einquartierten. Sie unterhielten sich vor dem Haus mit einer Nachbarin, als eine Granate einschlug. Alle drei starben. Es hagelte Schüsse und Granaten. Glücklicher Weise wurde eine Nacht bevor die Granate einschlug ein Munitionswagen, der im Garten des Elternhauses stand, entfernt. Somit hatte ein Beschuss nicht all zu große Folgen für Hab und Gut. Franziska weiß jedoch noch, wie ein antiker Spiegel von der Wand flog und erstaunlicherweise unversehrt auf dem Sofa lag.
Nachdem Parlamentäre am 28. April 1945 in Pöttmes die weiße Fahne zeigten, wurde der Beschuss eingestellt.
Am nächsten Tag rollten viele amerikanische Panzer durch den Ort. Es war eine chaotische Zeit. Freigelassene polnische Zwangsarbeiter überfielen Franziskas Elternhaus, und stahlen wertvolle Gegenstände. Alle Waffenbesitzer mussten ihre Gewehre abliefern. Die vierzehnjährige Franziska Bartsch übergab die drei Gewehre ihres Vaters. Die Waffen und die Munition wurden vor dem alten Rathaus in ein Granatenloch geworfen und zerstört. Die Überreste schlummern sicherlich noch heute dort unter der Erde.
Franziska Bartsch erinnert auch Positives aus der Besatzungszeit. Amerikanische Soldaten ließen ihre Uhren beim Vater reparieren und kamen gerne ins Haus, weil Franziskas Mutter fließend Englisch sprach. Diese Sprachkenntnisse erwarb die Mutter während des ersten Weltkrieges bei einem Aufenthalt im englischen Cornwall, wo sie als junges Mädchen fünf Jahre lang im Hotel ihrer Tante und ihres Onkels arbeitete.
Als das Leben nach Kriegsende allmählich normale Züge annahm, war Franziska heile froh, dass sie die Schule wieder besuchen durfte. Nach Beendigung der Schulzeit entschied sie sich in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und absolvierte in Augsburg eine vierjährige Ausbildung als Uhrmacherin. Die Seniorin erinnert sich an die Busfahrt zur Schule durch enge, zerstörte Straßen, flankiert von meterhohen Schutthaufen und wie die Schüler in dem unbeheizten Klassenzimmer froren. Anfangs war Franziska Schloßer die einzige Frau in der Klasse. Wissenslücken durch fehlenden Unterricht in den Kriegsjahren machten den Einstieg nicht leicht. Doch die junge Frau blieb standhaft, füllte Wissenslücken durch Schulfunk Sendungen im Radio, und schaffte die Gesellenprüfung. Sie arbeitete im Geschäft ihres Vaters und übernahm den Betrieb im Jahre 1967 als ihr Vater starb. Zu ihren Aufgaben gehörte auch das Warten der Kirchturmuhren in den umliegenden Gemeinden: Ebenried, Schnellmannskreuth, Schorn und Grimolshausen.
Das Geschäft führte Franziska Schloßer, mittlerweile Franziska Bartsch, allein. Ihre einzige Hilfe war ihr Mann Roman, der in Neuburg bei der Bundeswehr als Elektriker eine Anstellung hatte. Nach Feierabend um 18 Uhr, half er ihr bei schwierigen Arbeiten. „Ich habe meine erste und letzte Liebe geheiratet“, erzählt die alte Dame mit einem Lächeln in den Augen. Das Paar begegnete sich bei den Busfahrten von Pöttmes nach Augsburg in die Berufsschule. Es blühte eine Liebe auf, die 69 Jahre andauerte, bis ihr Mann Roman Bartsch 2022 verstarb.
Nostalgisch denkt sie an ihre Jugend zurück, wie sie mit ihren Schulkameraden auf dem Gumppenberg Ski gefahren ist. Ihre Skier, ein Meisterstück der Teamarbeit: die Skibretter vom Wagnermeister, die Kanten vom Schlosser und die Lederbindung vom Sattler angefertigt.
Heute freut sich die alte Dame über ihre zwei Kinder mit Ehegatten, zwei Enkelinnen mit ihren Ehemännern und fünf Urenkeln. „Nach 85 Jahren sind fast alle weggestorben“, sagt Franziska Bartsch, „jetzt müssen wir die Stange halten“.