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Ein Herz für Jung und Alt

Mary-Ann Stotko • 23. August 2021

 Angelika Spittler

Angelika Lindenberg wurde 1933 in Berlin geboren. Kurz darauf zog die Familie nach München. Da Angelikas Vater als Pfarrer einer anthroposophischen Gemeinde von den Nationalsozialisten Berufsverbot erteilt wurde, beendete er das vormals begonnene Medizinstudium und wurde 1944 als Arzt nach Polen versetzt. Angelikas Mutter, Nita Lindenberg, hatte nunmehr 8 Kinder allein zu versorgen. Sie nahm Pflegekinder auf, unter ihnen einige, die von den Nazis verfolgt wurden. Das war in der Stadt gefährlich. So zog sie nach Dietramszell auf‘s Land, wo sie mit einem kleinen Behelfsheim für den Lebensunterhalt der Familie sorgte. Inmitten der Natur und umgeben von Tieren (Kühen, Pferden, Hühnern und Schweinen) und vielen Kindern, wuchs Angelika in großer Freiheit auf. Sie war ein kränkliches Kind und litt häufig an Magengeschwüren und Migräne. Mit fünfzehn erkrankte sie dann noch an Lymphknotentuberkulose. Ein Jahr lang war ihr der Schulbesuch verwehrt.
Anschließend stellte sich die Frage: Was nun? Auf Drängen der Mutter nahm Angelika eine Ausbildungsstelle als Goldschmiedin an. Ihre Hände und die an Freiheit gewöhnte Seele sträubten sich gegen die filigrane Arbeit in einer naturfernen Werkstatt. Um diese Ausbildung nicht fortführen zu müssen, gedachte sie sogar sich die Hände zu verbrühen. Achtzehnjährig verließ sie ihre Familie und ging nach Paris. Nach langer Suche fand sie Arbeit als Kindermädchen – aber sie fühlte sich nicht wohl und war unglücklich. Schließlich kehrte sie nach Deutschland zurück, unterstützte ihre Mutter in der Schule und schloss eine pädagogische Ausbildung ab.
Im Jahre 1954 heiratete sie den Lehrer Rudolph Baron von Grotthus. Mit dem kleinen Sohn Till siedelte die Familie auf die Insel Wörth am Staffelsee über, wo Angelikas Mann im Internat für schwererziehbare Jungen unterrichtete und sie als Heimleiterin tätig war. Gerne denkt sie an diese Zeit zurück, an die Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren, kaum jünger als sie, die Strenge und Fürsorge brauchten, und heulten, wenn sie in den Ferien die Geborgenheit der Inselschule verlassen mussten, weil sie sich dort so verstanden fühlten.
Ihr Lebensweg führte sie dann mit ihrem Mann nach Peru, um dort in Lima eine Waldorfschule zu errichten. Voller Tatendrang nahm die kleine Familie 1963 ihr neues Leben in der südlichen Hemisphäre in Angriff. Doch nach zwei Jahren verstarb Angelikas Mann an einem Herzinfarkt. Der Traum einer Waldorfschule löste sich in Luft auf. Um für sich und den neunjährigen Till zu sorgen, nahm Angelika eine Stelle als Personalleiterin bei einer Pumpenfabrik an. Nach einigen Jahren heiratete sie Wolfgang Spittler. Auch mit ihrem 2. Mann waren hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche weiterhin im Lebensfokus. Das Ehepaar Spittler startete eine Initiative für eine Waldorfschule und ein heilpädagogisches Heim in Lima und wirkte mit an der Gründung des Zarate-Waldorfkindergartens für Arbeiterkinder in einem Industrieviertel. „Ich hatte einen großartigen Mann. Er machte alles mit mir mit,” gedenkt Angelika Spittler seiner in Dankbarkeit. Als ihr Sohn Till in Deutschland sein Studium aufnahm, adoptierten Angelika und Wolfgang Spittler vier peruanische Waisenkinder.
1996, erneut wurde Angelika von einem schwereren Schicksalsschlag getroffen: Wolfgang Spittler starb an Krebs. Wieder einmal war sie allein und auf sich gestellt. Die Adoptivkinder waren längst außer Haus. Angelika arbeitete als Personal- und Finanzleiterin in einer Fabrik mit 400 Arbeitern. Sie öffnete ihr großes Haus auf dem Fabrikgelände für Straßenkinder, die am Haus klingelten, weil sie gehört hatten, dass man ihnen dort helfen würde. Eine Köchin sorgte für warmes Essen. Bei der ‚Madrina‘ *, so nannten die Kinder Angelika Spittler, fanden sie einen Zufluchtsort.
Mit 72 Jahren gab Angelika ihre Arbeit in der Fabrik auf und musste das schöne Haus und den großen Garten, Eigentum des Fabrikbesitzers, verlassen - schweren Herzens auch ihre soziale Tätigkeit mit den Kindern beenden. Sie beschloss nach Bayern zurückzukehren, nach Pöttmes auf den Gumppenberg, wo ihre Mutter lebte und sie seit Jahrzehnten eine Ferienwohnung zur Familienzusammenführung mietete. Anfangs war es sehr schwer sich zu akklimatisieren. „In Peru hatte ich über die ganzen Jahre Heimweh. Aber zurück in Bayern war ich Mutterseelen allein, kannte niemanden und hatte keine Aufgaben. „Es war schrecklich”, erinnert Angelika Spittler. Erst als sie einen Hund zu versorgen hatte, ging es aufwärts. Ihre soziale Ader erwachte wieder. Regelmäßig führ sie ins Seniorenheim nach Pöttmes und kümmerte sich um die Bewohner. Sie förderte lokale Künstler und schmückte ihren herrlichen Garten mit Kunstwerken.
Nun lässt die Gesundheit anstrengende Aktivitäten nicht mehr zu. Angelika Spittler lebt zufrieden inmitten der Natur, zwei Hunde immer in ihrer Nähe, umgeben vom Gezwitscher unzähliger Vögel.  Ihr Herz schlägt für alle Menschen, Jung und Alt, und auch für Bayern. In der Idylle resümiert sie: „Ich habe 40 Jahre in Peru gelebt, aber Bayern ist meine Heimat.”

*Pflegemutter

Text: Mary-Ann Stotko
Photographie und Lektorat: Ludwiga Baronin Herman
Freundin und Vertraute: Antje Sträter

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