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Schicksal eines heimatvertriebenen Mädchens

Mary-Ann Stotko • 30. September 2019

Edith Baudisch *20.04.1936

Es ist das Frühjahr 1945, der 2. Weltkrieg geht dem Ende zu. Die Rote Armee besetzt Neudamm, das heutige Debno in der Woiwodschaft Westpommern in Polen. In einem Krankenhaus in Neudamm liegt die 28-jährige Gertrude. Von Angst gelähmt, denkt sie an ihre Kinder: Edith, Gunther und Siegfried. Es heißt: Die Polen kommen; erneut werden die Deutschen aus Neudamm vertrieben. Erst im Februar waren es die Russen. Die Russen, die sie mehrfach erniedrigt und vergewaltigt hatten, vor denen sie mit ihren Kindern geflüchtet war. Sie denkt an die verlassenen Häuser, wo sie Unterschlupf fanden und an das Weinen ihrer Kinder. Nach dem Abzug der Roten Armee kehrten sie in das verwüstete Haus zurück. Gertrudes psychischer Zustand verschlechterte sich zusehends, so dass sie in das örtliche Krankenhaus eingewiesen werden musste. Edith, die Älteste, lebt mit ihren Brüdern in einem Zweifamilienhaus. ‚Kind-Sein’ ist ihr nicht vergönnt. Sie muss ihre Brüder versorgen, die Mutter ist weg. Die Hausmitbewohner, eine Frau und ihr kriegsverletzter Sohn, unterstützen das neunjährige Mädchen. Nun drängt die Zeit, Edith muss packen. Bis 12 Uhr mittags müssen die Deutschen ihre Häuser räumen. Sie beschließt mit ihren Brüdern zu ihrer Tante nach Berlin zu gehen. Plötzlich steht die Mutter in der Tür. In eine Decke gewickelt, erscheint sie wie ein Geist. „Hol deine Brüder!“ ruft sie. Wortlos folgt Edith. Die Mutter nimmt alle drei Kinder an der Hand und geht in Richtung See, keine 200 m vom Haus entfernt. Am Ufer aber bleibt sie nicht stehen. Sie kann nicht zulassen, dass den Kindern etwas angetan wird. Sie muss die Kinder vor schrecklichem Unheil bewahren. Immer weiter geht sie ins Wasser. Der Tod kommt, still und leise. Edith strampelt und kämpft. Alles was sie an Kleidern besaß, hatte sie am morgen angezogen. Fünf Kleider, die sie jetzt in den Abgrund ziehen. Gerade noch als sie denkt, dass es auf das Ende zu geht, erblickt sie ein Boot. Junge Polen ziehen sie aus dem Wasser und bringen sie an Land. Edith hat nur einen Gedanken: Jetzt bin ich ganz allein. Ich muss vor 12 Uhr nach Hause, damit ich mit Familie Kiebitz fliehen kann. Von Neudamm nach Pankow, 1945 dem russischen Sektor

von Berlin zugeordnet, sind es gut 130 km, die Edith zu Fuß bewältigen musste. Zum Glück wusste sie die Adresse ihrer Tante. Erschöpft und von allem ausgezehrt angekommen, war es ihre Pflicht sich als Flüchtling zu melden, eine beschämende Anmeldung. Alle Flüchtlinge wurden wie Vieh aufgereiht und gegen Ungeziefer abgespritzt. Lange wusste sie nichts von ihrem Vater. Zum Ende des Krieges kam er in Gefangenschaft nach Mietraching/Bad Aibling, das größte unter amerikanischer Militärregierung stehende Kriegsgefangenenlager in Süddeutschland. Nach seiner Entlassung, ging er nach Schorn, wo er im Rahmen des Rückzuges Kontakte geknüpft hatte. Verzweifelt suchte er nach seiner Frau und den Kindern und erfuhr vom furchtbaren Schicksal. Nachdem Edith zwei Jahre bei der Tante in Berlin-Pankow gelebt und zur Schule gegangen war, reiste sie 1947 zu ihrem Vater. So kam sie nach Schorn in die Marktgemeinde Pöttmes und lernte 1956 beim Tanzen im Ochsenwirt ihren Mann Herbert Baudisch kennen. Sie wurde Mutter von vier Kindern und arbeitete über viele Jahre als Haushälterin. Notgedrungen hatte sie diese Aufgaben früh erlernen müssen.

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