Lothar Heinhold wurde vor 99 Jahren in Waldenburg, Schlesien, dem heutigen Walbrzych in Polen geboren. Heute, von seinem Zimmer im Caritas-Pflegezentrum St.Hildegard in Pöttmes, aus, blickt er zurück auf ein langes Leben, geprägt von historischen Ereignissen, die nicht nur ihn, sondern die ganze Welt verändert zurückließen.
In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg herrschte Armut, Not und Arbeitslosigkeit; viele hungerten. Als Lokführer war Lothars Vater Beamter, er verdiente nicht viel, aber selbst in diesen schweren Zeiten kam die Familie über die Runden. Seine Kindheit und Jugend waren schön und unbeschwert. Die ersten Schatten kamen 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf. Die Schule und die Kirche unterlagen zunehmend ideologischem Druck. Ehrliche Meinungsäußerungen verstummten in Gegenwart von Spitzeln, die auch die Predigten überwachten. Nur die Mutigen riskierten mit Anti-Nazi Aussagen Verhör und Gefängnis.
Mit achtzehn Jahren, kurz vor dem Abitur, wurde Lothar zu den Pionieren nach Breslau eingezogen. Nach der Rekrutenzeit wurde er zusammen mit anderen Abiturienten in die Batallionsschule abkommandiert. Das bedeutete hartes Training, körperliche und psychologische Vorbereitung auf die folgende Frontbewährung, auch als „Himmelfahrts-kommando“ bekannt. Ende April 1944 kam dann der Kriegseinsatz in Russland: Lothar verließ die Heimat für immer.
Diese Kriegszeit an der Front war jeden Tag ein zum Scheitern verurteilter Versuch den ständigen Vormarsch der Russen einzudämmen: Man sprengte Brücken und verlegte Minen, bei Frost und Hitze, mit dürftiger Ausrüstung, Kleidung und schlechtem Schuhwerk. Viel Leid und auch der Tod waren allgegenwärtig.
Am 8. Mai 1945 um 23 Uhr trat die bedingungslose Kapitulation Deutschlands in Kraft und für Lothar Heinhold und seine Kompanie begann als Kriegsgefangene der lange Marsch in das Sammellager vor Deutsch-Eylau, Westpreußen, dem heutigen Ilawa in der Polnischen Woiwodschaft Emland-Masuren. Die Erleichterung, dass die Schrecken des Krieges vorbei waren, „verwandelte sich schnell in tiefe Depression, aber auch ohnmächtige Wut“ als die Truppen auf zurückgebliebene Deutsche trafen. „Halb verhungerte Frauen und Kinder drängten sich an unsere Kolonne, bettelten um Lebensmittel und erzählten von den unbeschreiblichen Exzessen und Vergewaltigungen, denen sie ausgesetzt waren“, erzählt der alte Herr. Im Juni hieß es Abmarsch zum naheliegenden Bahnhof zum Weitertransport. Keiner wusste wohin. Auf den Zug wartend, trat eine totale Sonnenfinsternis ein. Ein schlechtes Vorzeichen.
In geschlossenen Güterwagons ging der Transport nach Chlebnikowo (Kaliningrad), in der Nähe von Moskau. Dort bezogen die Gefangenen das Lager, wo sie registriert wurden und man ihnen sämtliche Körperhaare abrasierte. Zwecks Arbeitsfähigkeit wurde der Gesundheitsgrad von einem Arzt untersucht und die Gefangenen nach Berufsgruppen unterteilt. Da Lothar Heinhold als Schüler eingezogen wurde und keine Ausbildung hatte, gehörte er zu den „Tschorni Robotschik“, (ungelernte Arbeiter). Er wurde zuerst als Schichtarbeiter in einer Ziegelei eingesetzt. Zehn Stunden harte körperliche Arbeit am Tag, 7 Tage die Woche bei ständigem Hunger. Viele arbeiteten im Schneckentempo. „Wir mussten unsere Kräfte schonen, denn es ging um‘s Überleben“, erinnert der 99zig Jährige.
Wegen Krankheit und Erschöpfung wurde er dem Waldkommando zugeordnet. Die Waldarbeit brachte große Vorteile. Man konnte sich unbeobachtet bewegen, die Ernährung mit Pilzen und Beeren aufbessern und als die Kartoffeln reif wurden, sich mit den heimlich gestohlenen Erdäpfeln eine Zusatzverpflegung beschaffen. Diese sorglose Zeit ohne Hunger endete mit der Rückkehr ins Lager Chlebnikowo im Spätherbst.
Dort angekommen, erschrak er, als er die ausgemergelten Gestalten seiner Kameraden sah. Nur die Hälfte der ehemaligen Belegung hatte überlebt. Bei Schwerstarbeit auf Baustellen außerhalb des Lagers und minimaler Verpflegung, oft bei Temperaturen unter -25 °C, war die Todesrate hoch, vor allem unter ganz jungen and ganz alten Gefangenen. Manche erst 15 Jahre alt und andere über 70. Die unhygienischen Verhältnisse im Lager waren unbeschreiblich: Waschen war im Winter unmöglich und die Kleidung übersät mit Wanzen und Läusen. „In dieser Zeit,“ berichtet Lothar Heinhold, „befanden wir uns seelisch und geistig nahezu auf dem Stand eines Tieres. Stumpf und teilnahmslos war alles nur noch auf Nahrungssuche und Ruhe ausgerichtet“.
So vergingen drei Jahre mit Zwangsarbeit, Hunger, Krankheit und unmenschlichen Zuständen, bis Lothar Heinhold endlich am 9. August 1948, aus der Gefangenschaft entlassen wurde. Frei war „nicht irgendwelchen Mächten und Personen ausgeliefert sein, sondern wieder Rechte zu besitzen, eigenständig zu handeln und sich frei zu bewegen“. Das kann keiner nachvollziehen, der es nicht selbst schon erlebt hat, erinnert er sich. Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein unschätzbar kostbares Gut.
Lothar Heinhold ist ein zutiefst gläubiger Mensch. Er dankt dem Herrgott noch heute, dass er alles überstanden hat. Von jungen Jahren an, durch die Schulzeit, den Krieg, Gefangenschaft, und das weitere Leben, im Ingenieur Studium und Beruf, spielte die Kirche und die Kolpingfamilie, bei der er die Frau seines Lebens fand, eine große Rolle. Bei vielen Erlebnissen hat Lothar Heinhold die schützende Hand Gottes verspürt und die Bedeutung des Lobliedes: „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet“ persönlich erfahren.
Lothar Heinhold sieht sich nicht als Opfer schwerer Schicksalsschläge, sondern als Empfänger der Gnade Gottes.
Nun lebt der alte Herr zufrieden und dankbar in Pöttmes und erfreut sich an seinen 3 Kindern, 6 Enkeln und 12 Urenkeln. Selbst im hohen Alter ist er digital unterwegs, korrespondiert mit der Familie per E-Mail und informiert sich am Computer über Weltereignisse.
Eine bewundernswerte Persönlichkeit, die dem Leben, trotz Zeiten großer Entbehrungen stets mit Interesse und Humor begegnet.